Das Haus der jüdischen Familie Pagener
Raifeissenstraße 19, 26180 Rastede
Die jüdische Familie Pagener
Der jüdische Viehhändler Norbert Pagener, seine Frau Anna und die zwei Töchter namens Ruth und Ingrid lebten in der Knoopstraße 106 (heutige Raiffeisenstraße 19). Anna Pagener war eine Tochter von Levie und Sophie de Levie. Die Familie de Levie wohnte in der Bahnhofstraße (heutige Hausnummer 24). Als die Nationalsozialisten in Deutschland an die Macht kamen, war Norbert Pagener 36 Jahre alt, seine Frau Anna war 27 Jahre alt, die ältere Tochter Ruth war 6 Jahre alt und die jüngere Tochter Ingrid war 4 Jahre alt.
Norbert Herbert Pagener
- Geburtsdatum: 29.03.1896
- Geburtsort: Epe/Westfalen
- Beruf: Viehhändler
- Ehefrau: Anna Pagener, geb. de Levie
- Kinder: Ruth und Ingrid Pagener
- Todestag: festgesetzt auf 31.10.1944
- Todesort: Vernichtungslager Auschwitz
Anna Winka Pagener (geb. de Levie)
- Geburtsdatum: 18.09.1905
- Geburtsort: Rastede
- Ehemann: Norbert Pagener
- Kinder: Ruth und Ingrid Pagener
- Eltern: Levie und Sophie de Levie
- Todestag: festgesetzt auf 28.02.1945
- Todesort: Konzentrationslager Stutthof
Ruth Esther Pagener
- Geburtsdatum: 26.07.1926
- Eltern: Norbert und Anna Pagener, geb. de Levie
- Geburtsort: Oldenburg
- Todestag: festgesetzt auf 28.02.1945
- Todesort: Konzentrationslager Stutthof
Ingrid Sophie Pagener
- Geburtsdatum: 07.07.1928
- Geburtsort: Rastede
- Eltern: Norbert und Anna Pagener, geb. de Levie
- Todestag: festgesetzt auf 28.02.1945
- Todesort: Konzentrationslager Stutthof
Vahlenkamp, Werner: Von der Achtung zur Ächtung: Die Geschichte der Rasteder Juden. Oldenburg 1989, S. 62f. (Das Buch kann in der Gemeindebücherei Rastede ausgeliehen werden.)
Gedenkbuch: Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland. Koblenz: Bundesarchiv, Eintrag für Norbert Pagener: https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/de436490.
Arolsen Archives: International Center on Nazi Persecution:
Akte von Anna Pagener: https://collections.arolsen-archives.org/de/search/person/4589226?s=pagener%20anna&t=2518740&p=0
Akte von Ruth Pagener: https://collections.arolsen-archives.org/de/search/person/4589232?s=pagener%20ruth&t=2518743&p=0
Akte von Ingrid Pagener: https://collections.arolsen-archives.org/de/search/person/4589229?s=pagener%20ingrid&t=2518742&p=0
Diskriminierung und Ausgrenzung
Die zunehmende Ausgrenzung der jüdischen Menschen seit 1933 in Rastede traf auch die Kinder. Am 14. Oktober 1935 berichtete der Bürgermeister von Rastede, dass es in der Volksschule noch drei jüdische Kinder gebe. Bei diesen drei “Judenkindern” handelte es sich um Ruth und Ingrid Pagener sowie ihre Cousine Hannelore Rosenbaum (Tochter von Grete Rosenbaum, geb. de Levie). Hannelore Rosenbaum überlebte den nationalsozialistischen Terror und berichtete später, dass sie auf dem Schulweg zur Rasteder Volksschule täglich schikaniert und verprügelt wurde. Die Mitschüler*innen wurden dazu vor allem von den nationalsozialistischen Lehrkräften aufgehetzt. Die jüdischen Kinder trauten sich nicht, sich gegen die Angreifer*innen zu wehren, weil sie Angst hatten, dass ihre Eltern dann verhaftet werden.
Vahlenkamp, Werner: Von der Achtung zur Ächtung: Die Geschichte der Rasteder Juden. Oldenburg 1989, S. 39. (Das Buch kann in der Gemeindebücherei Rastede ausgeliehen werden.)
Erinnerungen der Zeitzeugin Frau Lehners aus Rastede
Auch Frau Lehners erinnert sich an Schikanen, die Ruth und Ingrid Pagener in der Schule durch die Lehrerin erlitten. Diese sei eine glühende Nationalsozialistin gewesen, die in der Schule stets stolz ihr NSDAP-Abzeichen getragen habe. Frau Lehners war zu dieser Zeit mit einem Mädchen namens Lore befreundet, die eine Schulfreundin von Ruth Pagener gewesen sei. Lore habe Ruth auch zu ihrem Geburtstag eingeladen. Daraufhin habe Frau Pagener Lores Eltern gefragt, ob auch Ruths Schwester Ingrid an der Geburtstagsfeier teilnehmen könne, weil ihre Töchter ja sonst nirgends mehr hinkönnen. Dass die beiden jüdischen Mädchen bei Lore zum Geburtstag waren, sprach sich so schnell zur Lehrerin herum, dass diese gleich am nächsten Tag die Familie von Lore zu Hause besucht und die Mutter beschimpft habe, weil jüdische Kinder eingeladen wurden.

Anna Pagener inserierte im April 1935 in der Lokalzeitung “Nachrichten für Stadt und Land”, weil sie eine Haushaltshilfe suchte. Dass kurz darauf Norberts Schwester Antonie Pagener für zwei Jahre bei ihnen einzog, lässt darauf schließen, dass sie wohl niemanden gefunden hat. Es ist bekannt, dass Antonie ihren Unterhalt als Haushaltshilfe verdiente.
Quelle: Nachrichten für Stadt und Land: Oldenburger Zeitung für Volk und Heimat, 69 (1935), (09.04.1935) 98. Oldenburg: Landesbibliothek Oldenburg 2022.
Verfolgung und Vertreibung

Ab 1936 konnte Norbert Pagener den Unterhalt der Familie nicht mehr als Viehhändler bestreiten, weil die Rasteder Bauern nicht bei den den jüdischen Viehhändlern kauften. Im April 1937 wurde ein am Rastederbrink gelegenes Grundstück von Norbert Pagener zwangsversteigert. Es handelte sich um eine kleine landwirtschaftliche Nutzfläche.
Als sich die Situation immer weiter zuspitzte, verließ die Familie im Sommer 1937 Rastede. Anna und Norbert Pagener bereiteten die weitere Flucht in die Niederlande vor. In der Zwischenzeit kamen die Pageners bei Familienmitgliedern unter, die Familie war häufig getrennt. Anna Pagener war bis April 1938 in Oldenburg gemeldet, zuerst im Haus ihres Vaters Levie de Levie. Annas Eltern sowie ihr Bruder Bernhard de Levie und dessen Frau waren bereits im April 1937 aus Rastede nach Oldenburg geflohen. Sie alle mussten innerhalb von kurzer Zeit noch zwei Mal in Oldenburg umziehen und lebten zuletzt mit vielen anderen jüdischen Menschen auf engem Raum. Es ist bekannt, dass sich auch Ruth und Ingrid zeitweise in Oldenburg aufhielten und hier die jüdische Schule besuchten. Gemeldet waren sie seit September 1937 wie auch ihr Vater Norbert Pagener in Recklinghausen bei dessen Bruder.
Im November 1937 wurde Anna Pagener scheinbar in Utrecht verhaftet und nach Deutschland ausgeliefert. Im Februar 1938 war sie für zehn Tage im Staatsgefängnis Oldenburg in Untersuchungshaft. Norbert Pagener wurde im Oktober 1938 im Gefängnis Coesfeld inhaftiert. Schließlich gelang der Familie im Jahr 1939 die Flucht in die Niederlande. Norbert Pagener kam jedoch kurz darauf ins Männer-Flüchtlingslager Hoek van Holland, während Anna Pagener mit den Töchtern in Amsterdam wohnte. Auch in Amsterdam mussten sie mehrmals umziehen.

T138, Item ID 15108276.
Vahlenkamp, Werner: Von der Achtung zur Ächtung: Die Geschichte der Rasteder Juden. Oldenburg 1989, S. 44. (Das Buch kann in der Gemeindebücherei Rastede ausgeliehen werden.)
Erinnerungsbuch: Ein Verzeichnis der von der nationalsozialistischen Judenverfolgung betroffenen Einwohner der Stadt Oldenburg 1933 – 1945. Bremen: Ed. Temmen 2001.
Einträge im Erinnerungsbuch online
Norbert Pagener: http://erinnerungsbuch-oldenburg.de/jeo.php?PID=380
Anna Pagener: http://erinnerungsbuch-oldenburg.de/jeo.php?PID=378
Ruth Pagener: http://erinnerungsbuch-oldenburg.de/jeo.php?PID=381
Ingrid Pagener: http://erinnerungsbuch-oldenburg.de/jeo.php?PID=379
Internierung und Ermordung
Im Mai 1940 marschierte die Wehrmacht in die Niederlande ein, im Juni wurde die Familie in Amsterdam festgenommen. Einen Monat später wurden sie ins Durchgangslager Westerbork in den Niederlanden gebracht. Scheinbar wurde Anna Pagener im August 1940 nach Oldenburg ins Untersuchungsgefängnis überstellt und zu einer mehrmonatigen Haftstrafe verurteilt. Ab November war sie wohl im Frauengefängnis in Vechta inhaftiert. Ab November 1941 waren alle Familienmitglieder im Durchgangslager Westerbork.
Aus dem ehemaligen Flüchtlingslager für Juden aus Deutschland in Westerbork machten die Nazis ein sogenanntes Durchgangslager: Jeden Dienstag fuhr von hier ein Zug voll mit Häftlingen „nach Osten“ – in die Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und Sobibor. Von der industriellen Massentötung wussten die Internierten wohl nichts. Es war ihnen aber bewusst, dass denen, die weiter deportiert wurden, größere Gefahr drohte. Häftlingen, die bereits länger im Lager interniert waren, wurden Aufgaben zugeteilt. Die jüdischen Insassen mussten selbst dafür sorgen, dass das Lager funktionierte. Es gab eine jüdische Lagerpolizei und auch eine Theatergruppe mit bekannten jüdischen Schauspieler*innen. Ruth Pagener wurde Mitglied der „Westerbork Girls“, einer Revuegruppe aus sechs Mädchen, die mit Gesang und Tanz auftrat und in Theaterstücken mitwirkte. Ihre Mutter Anna Pagener war als Barackenleiterin eingeteilt. Dies war eine Aufgabe, die mit großer psychischer Belastung einherging. Denn sie war gezwungen, sich an Maßnahmen zu beteiligen, die ihre Mithäftlinge in Gefahr brachten. In einem Lagerbefehl vom 5. Juni 1943 heißt es: „Die bisherige Barackenleiterin Anna Pagener […] hat versucht eine ihr befreundete Familie vom Transport zurückzuhalten und […] versteckt. Sie ist mit sofortiger Wirkung als Barackenleiterin abgesetzt. Ich mache darauf aufmerksam, dass jeder, der einen derartigen Versuch wiederholt, ohne weiteres auf Straftransport gestellt wird.“

Am 18. Januar 1944 wurde Familie Pagener von Westerbork ins Konzentrationslager Theresienstadt in Tschechien deportiert. Am 16. Mai kamen sie ins KZ Auschwitz in Polen. Anna, Ruth und Ingrid Pagener wurden am 20. Juli weiter ins KZ Stutthof in Polen deportiert. Norbert Pagener blieb in Auschwitz und wurde dort ermordet. Als Todesdatum wurde der 31. Oktober 1944 festgelegt. Anna, Ruth und Ingrid Pagener starben kurz vor Kriegsende – höchstwahrscheinlich auf einem Todesmarsch. Der 28. Februar 1945 wurde als Todesdatum festgelegt. Norbert Pagener wurde 48 Jahre alt, Anna Pagener war bei ihrer Ermordung 40 Jahre alt, Ruth wurde 19 Jahre und Ingrid 17 Jahre alt.


Erinnerungsbuch: Ein Verzeichnis der von der nationalsozialistischen Judenverfolgung betroffenen Einwohner der Stadt Oldenburg 1933 – 1945. Bremen: Ed. Temmen 2001.
Einträge im Erinnerungsbuch online
Norbert Pagener: http://erinnerungsbuch-oldenburg.de/jeo.php?PID=380
Anna Pagener: http://erinnerungsbuch-oldenburg.de/jeo.php?PID=378
Ruth Pagener: http://erinnerungsbuch-oldenburg.de/jeo.php?PID=381
Ingrid Pagener: http://erinnerungsbuch-oldenburg.de/jeo.php?PID=379
Gemeente Amsterdam Stadtsarchief: Politierapporten ’40-’45, Archivnummer 5225, Inventarnummer 7148, Rapportnummer: 168.
Kamp Westerbork Digitale Collectie: Lagerbefehl Nr. 36, Bestandsnummer H1945-49-36.
Gedenkbuch: Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland. Koblenz: Bundesarchiv, Eintrag für Norbert Pagener: https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/de436490.
Arolsen Archives: International Center on Nazi Persecution:
Akte von Anna Pagener: https://collections.arolsen-archives.org/de/search/person/4589226?s=pagener%20anna&t=2518740&p=0
Akte von Ruth Pagener: https://collections.arolsen-archives.org/de/search/person/4589232?s=pagener%20ruth&t=2518743&p=0
Akte von Ingrid Pagener: https://collections.arolsen-archives.org/de/search/person/4589229?s=pagener%20ingrid&t=2518742&p=0
Das Haus in der Raiffeisenstraße 19
Die Familie Pagener lebte seit 1926 in Rastede in der damaligen Knoopstraße 106. Das Wohnhaus war um 1900 erbaut worden war. Bis 1926 gehörte es Heinrich Eilers, dem Besitzer eines Dampfsägewerks und einer Holzwarenfabrik in Rastede. Von 1926 bis 1940 war Norbert Pagener Eigentümer des Hauses. Sein “Nutz- und Fettviehgeschäft” befand sich in den Anbauten hinter dem Haus. Zu Beginn des 2. Weltkriegs wurde das Haus enteignet und vermietet. Die Anbauten wurden saniert und mit Wohnungen ausgestattet. Durch An- und Umbau enstanden die heutigen Wohnhäuser Raiffeisenstraße 19a und 19b. Die Wohnhäuser mit den Hausnummern 21 und 21a wurden in den 1980er Jahren im ehemaligen Garten des Hauses erbaut.


Uhlhorn, Charlotte: Alte Ortsstraßen. (Rasteder Rückblicke 2), Oldenburg: Isensee 2015, S. 77. (Das Buch steht in der Gemeindebücherei Rastede zur Ansicht bereit.)